Esra Ersen

In Ankara geboren, lebt die Künstlerin in Berlin. Sie studierte in Istanbul und Nantes. Wichtige Einzelausstellungen waren unter anderem: Salt Ulus, Ankara (2015), Frankfurter Kunstverein (2006). Gruppenausstellungen: u.a Istanbul Biennale, Liverpool Biennale, Gwangju Biennale, Manifesta 4. Stipendien: u.a Kulturakade mie Tarabya, Istanbul; Delfina, London. Voll heiterer Subversion basiert ihre Arbeit auf der Untersuchung sozialer Situationen in Auseinandersetzung mit Kultur, Mythen und Wirtschaft.

Le Due Rome (2020/2021)

Tafeln aus Travertin, Halterungen aus Stahl

Übersetzungen

Da meine Großmutter erwartete, dass sie früh die ewige Ruhe finden und so
den glücklichsten Tag im Leben ihrer Enkelinnen nicht miterleben würde,
sorgte sie dafür, dass jeder von uns eine Bettdecke für die Aussteuer genäht
wurde. Kein Stoffhändler im Basar, den wir nicht aufgesucht hätten, und bei
dem Großmutter nicht die Stoffballen in allerlei Farben abrollen ließ, um
den am besten zu unserem Teint passenden zu finden, indem sie die Stoffe
an unsere Gesichter hielt; den Rest überließ sie den geschickten Händen des
Steppdeckennähers. Natürlich hätte sie niemals gedacht, dass die Geschichte
der Bettdecke, die sie in Istanbul hatte nähen lassen eines Tages bis nach Rom
reichen würde. Nun liege ich hier, in Rom, unter dieser honigfarbenen Decke
aus Atlasseide und denke an meine feinsinnige Großmutter.

Meine Tante kaufte jede Woche ihre Zeitschrift und versank in ihr, um sie von der neuesten
Kleidermode bis hin zur internationalen Küche Seite für Seite gewissenhaft zu studieren.
Dabei beließ sie es nicht beim Betrachten der Fotos, sie breitete auch die Schnittmuster auf
dem Tisch aus, fand unter Hunderten von Linien im Handumdrehen das von ihr gesuchte
Modell und verstand sofort, wo der Abnäher hinkam und wie der Ärmel angesetzt werden
musste. Abends kochte sie die französischen und italienischen Gerichte, deren Rezepte sie
in der Zeitschrift entdeckt hatte; uns blieb, diese Speisen mit den für uns unaussprechlichen
Namen zu probieren. Aber es waren weder die internationale Küche noch die Schnittmuster,
weshalb meine Tante darauf achtete, die Zeitschrift nie zu verpassen, es gab eigentlich nur
einen Grund: Franco Gasparri! Er war auch für mich der erste Italiener, den ich kennenlernen
durfte und, was ich niemandem offenbaren konnte, die Liebe meiner Kindheit. In den
siebziger Jahren, als italienische Fotoromane ins Türkische übersetzt wurden, verfügte Gasparri
über eine beträchtliche Fangemeinde in Istanbul. Für die Fotoromane, die man zwischen den
Schulbüchern versteckte, um sie heimlich zu lesen, hatte sich eine lokale Tauschbörse
entwickelt. Man lieh sich die Hefte am Kiosk oder sie wurden reihum weiter gereicht, wenn sie
jemand gekauft hatte.

Auch wenn der Schreibwarenladen, dessen Verkaufsfläche man durch das Aufstellen
von vollgestopften Regalreihen vergrößert hatte, von außen betrachtet winzig
aussieht, wimmelt es drinnen nur so von Kindern. Der Laden liegt gegenüber der
Schule. Dass der Schreibwarenhändler ein wenig griesgrämig wirkt, liegt wohl daran,
dass er sich von morgens bis abends mit Kindern und deren Müttern herumschlägt,
die elf Blatt Papier, zwei Stifte, einen duftenden Radiergummi und sonstigem
Krimskrams verlangen. Sein Gehilfe wirkt genauso. Es ist, als befände sich
der Laden nicht in Rom, sondern im Istanbuler Stadtteil Eminönü. Der Gehilfe hat
dieselben Bewegungen und die gleiche Miene eines Mannes, der sein Leben lang in
einem Schreibwarenladen gearbeitet hat. Zwar versucht er, auf dem Weg ins Lager,
um den von mir gewünschten Pinsel zu holen, die Frage eines anderen Kunden höflich
zu beantworten, doch sein Gesicht sagt etwas anderes: Ich hab zu tun, siehst du
das nicht; sag einfach, was du willst, damit ich die anderen Sachen erledigen kann.

Sobald die großen Fische im Herbst begannen, sich in wärmere Gewässer zu begeben
und vom Schwarzen Meer durch den Bosporus zu ziehen, wurde in Istanbul die
Fischsaison eröffnet. Da kleinere Fische, wie etwa Makrelen, nicht gemeinsam
mit den Großen durch den Bosporus schwimmen wollten, wohl um die Gefahr wissend,
von ihnen gefressen werden zu können, kamen sie erst gegen Herbstende auf den
Tisch. Meine Mutter bereitete köstliche gefüllte Makrelen zu. Sie nahm den Fisch
aus, ohne ihn am Bauch aufzuschneiden. Sie rieb ihn vom Schwanz in Richtung
Kopf und zog das Rückgrat samt Gräten vollständig heraus, ohne den Fisch zu
zerdrücken. Sie füllte die Makrelen mit einer mit Zimt und Kreuzkümmel gewürzten
Masse aus in Olivenöl angeschwitzten Zwiebeln, Pinienkernen und schwarzen
Rosinen, wendete die Fische in Mehl, Eigelb und Paniermehl und briet sie in Öl. Als
ich in Rom einen Kellner in einem Fischrestaurant „sgombro“ sagen hörte, klang es
für mich kurz wie das türkische Wort für Makrele, „uskumru“, so als wäre es nur ein
anderer Dialekt.Wahrscheinlich gehört das auch zum Erbe von Byzanz.

Pinien und Zypressen waren die ersten, die mir zuflüsterten, dass ich mich
hier an einem vertrauten Ort befand. Im Sommer wurden Schaukeln an Pinien
befestigt, die auf den Bosporus blickten, und wenn wir uns im Nordostwind,
dem poyraz, in die Lüfte schwangen, war uns, als könnten wir fliegen, und
je mehr wir uns im Schatten ihrer schützenden Arme in die Seile stemmten,
desto schneller flogen wir. Die Pinien von damals gibt es heute nicht mehr. In
Istanbul ein Baum zu sein ist genauso schwer wie Mensch zu sein; ihm können
alle möglichen Dinge zustoßen.

Im Koran heißt es in einer Sure, dass alles im Himmel und auf Erden Allah in
seiner eigenen Sprache lobpreist. Wohl deshalb dachten die Osmanen, das „Huuu“,
das gebetsartige Rauschen der Nadeln der Zypresse im Wind, sei eine Anrufung
Allahs, und ein Hinweis auf Allahs nicht fassbares und nicht vorstellbares Wesen.
Man glaubte auch, das Immergrün der Zypresse erinnere die Menschen an die
Unsterblichkeit, und ihre Statur erinnere an den ersten Buchstaben des arabischen
Alphabets Alif „ ا“ und die Zahl Eins „١“, deren aufrechte Form die Einheit Allahs
evoziere. Wegen all dem maß man ihr eine mystische Bedeutung zu. Ich hatte dies
immer für eine osmanische Tradition gehalten, bis ich die Zypressen auf römischen
Friedhöfen entdeckte. Ist es denn möglich zu denken, das man sich auf einem
Friedhof fast wie zuhause fühlt?

Wenn meine Großmutter nachts nicht schlafen konnte, betete sie die Moscheen oder
die Bankfilialen auf dem Weg von Fatih nach Sultanahmet herunter. Auf dem Weg
von dem Haus in Sultanahmet bis zum Haus in Fatih ging es an vielen Moscheen,
den dazugehörigen Koranschulen, den Medressen und Derwischklöstern aus der
Zeit der osmanischen Sultane vorbei, und auch wenn wir nicht hineingingen, brannten
sich die Namen der Anlagen mit den eisenvergitterten Gartenmauern, den
schönen aufgerichteten Grabsteinen, den riesigen Bäumen mit dem friedvollen Schatten,
in unser Gedächtnis und die entrückte Atmosphäre in unsere Seelen ein. Bei jeder
Wegbeschreibung nannte man sie, als seien es die Häuser, in denen irgendwann
einmal eigene Vorfahren gelebt hätten; und selbst wenn wir uns verliefen, wussten wir,
dass wir dort Zuflucht hätten finden können.

Mit seinen Hügeln und dem Bosporus formt Istanbul seine Winde, und seine Winde wiederum
formen uns Istanbuler. Wir Menschen sind wie Barometer, empfindlich gegen Wind
und Regen; man trifft nicht einmal eine Verabredung, ohne vorher den Wind zu prüfen. Bei dem
Begriff Wind denkt man bei uns an den Lodos und den Poyraz. Der von Südwesten wehende
Lodos bestimmt nicht nur die Wetterlage der Stadt, sondern auch die Seelenlage der Menschen.
Bei Einsetzen des feuchtheiße Luft mitbringenden Lodos bekommt man Kopfschmerzen,
es stellt sich eine Beklemmung, eine Anspannung, eine Mattigkeit ein; sogar die Fische
im Meer geraten in Verwirrung und ihr Fleisch wird ungenießbar. Wenn der Lodos wehte,
wurden in byzantinischer Zeit Gerichtsverhandlungen annulliert, und auch im osmanischen
Reich fassten die Richter keine Beschlüsse, weil sie meinten, der Lodos störe das Urteilsvermögen,
sondern verschoben die Verhandlungen auf einen Tag mit Poyraz. Bei Lodos
bäumt sich das Meer auf, die Dampfschiffe schaukeln hin und her, als würden sie beinahe kentern,
und wenn sich dann noch der Nebel senkt, wird der Schiffsverkehr insgesamt eingestellt. Die
Fischer sagen, der Lodos ist das Heck des Poyraz, und der Poyraz ist das Heck des Lodos.
Weht der Poyraz im Sommer, ist der Istanbuler ganz aus dem Häuschen, denn der Wind
bringt frische Luft und vertreibt die Feuchtigkeit, im Winter jedoch bedeutet der Poyraz
trockene Kälte und, wenn er richtig wütet, Sturm; Bäume stürzen um und Dächer fliegen davon.

Auch wenn die aufs Meer blickenden Stadtmauern verfallen waren, glaubten wir,
dass sie uns immer noch schützten. Obwohl wir sie nicht häufig durchschritten,
kannte ich die Namen aller Tore und hätte sie sogar mit geschlossenen Augen finden
können. An einem Morgen strömten alle Bewohner der Altstadt durch die Tore zum
Meer. Am Abend zuvor hatten sie zu Hause fieberhaft vorbereitet: wie von einem
Zauberstab berührt, verwandelte sich jedes Familienmitglied in einen Maler oder
Bildhauer, zeichnete oder formte aus Steinen und Lehm das, was man für sich erbat,
um es dann mit dem entsprechenden Wunsch auf den Lippen unter einen
Rosenstrauch zu legen. Denn jedes Jahr in der Nacht vom fünften auf den sechsten
Mai treffen sich unter dem Rosenstock die zwei Propheten, die vom Lebenswasser
getrunken haben: der auf dem Festland lebende Chidr und der auf dem Meer
lebende Elias, um Leben zu spenden und denjenigen zu helfen, die in Not sind, einen
Wunsch haben oder in Schwierigkeiten stecken. Damit die Wünsche in Erfüllung
gehen, werden all die Dinge unter dem Rosenstrauch eingesammelt und ins Meer geworfen.

Ich könnte Stunden damit zubringen, Schaufenster zu betrachten. Eisenwarenhandlungen,
in denen zwischen verstaubten Kästen interessante Werkzeuge und Gerätschaften verkauft
werden, von denen ich bei den meisten nicht einmal weiß, wozu sie dienen; Haushaltswaren-
geschäfte, in denen das durch die Kristallgläser gefilterte Sonnenlicht die Tassen und Teller
der Auslagen mit Farben streichelt, und Kurzwarenläden, die in ihren winzigen Räumlichkeiten
mit ihrem Angebot an Knöpfen, Kordeln, Garnrollen in allen Farben bis hin zu Stricknadeln
aus allen Nähten platzen. All diese Geschäfte und ihre Händler, jeder von ihnen einzig
in seiner Art, sind aus den Straßen des alten Istanbul verschwunden. Gestern ging ich in
einen Laden in der Via di Torre Argentina, der mit Goldfäden durchwirkte Seidenkordeln für
die schweren Vorhänge vergangener Epochen verkauft, und ich verspürte die gleiche Furcht,
die mich überkommt, wenn ich in einem alten Familienalbum, bei dem sogar die schwarze
Pappe vergilbt ist, die halb durchscheinenden Seiten umblättere, die die Fotografien schützen
sollen. Hinter der Ladentheke stand eine alte Dame in ihren Neunzigern, die ich kaum
bemerkt hätte, hätte sie sich nicht bewegt. Mir war, als hätte ich eine Truhe in einem fremden
Haus geöffnet. Alles, was ich herauszog, kam mir bekannt vor.

Die aus Istanbul stammende und in Berlin lebende Künstlerin hat zehn literarische Miniaturen auf Tafeln aus Travertin, einem für Rom typischen Material, beschriftet, die an der Außenmauer des Geländes der Villa Massimo entlang der Viale XXI Aprile zu sehen waren. Für Neuhardenberg hat sie die Tafeln im Park gesetzt, die an Gedenktafeln erinnern und zu Trägern von Botschaften aus der Vergangenheit im öffentlichen Raum werden. Der Titel der Arbeit bezieht sich auf das Buch Le Due Rome: confronto tra Roma e Costantinopoli des byzantinischen Gelehrten Manuel Chrysoloras, der am Ende des 14. Jahrhunderts als Diplomat in Florenz und Venedig dem Humanismus der Frührenaissance entscheidende Impulse gab und die Verbindung zwischen Rom und Konstantinopel vor dem Vergessen bewahrte. Die heutigen Städte Rom und Istanbul sind Teil eines zusammenhängenden Kulturraums, der sich bis ins 20. Jahrhundert durch regen Austausch und engen Handel erhalten hat. Die Identitätspolitiken der sich formierenden modernen Staaten im 19. und 20. Jahrhundert rückten nationale Besonderheiten in den Vordergrund, das Bewusstsein der gemeinsamen Wurzeln geriet aus dem Blickfeld.

Diario (2020/2021)

10 Fotografien, Fine Art Prints, mattes Papier auf Alu-Dibond 

Zwei Themen belasten die italienische Politik besonders: der Umgang mit Müll und die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer.

Müll ist seit Jahrzehnten ein lukratives Geschäftsfeld der Mafia. Unter Einflussnahmeauf die Politik werden Aufträge so vergeben, dass die Mafia daran verdient. In Rom sind die Probleme besonders groß, weil die Mafia den Bau von Müllverbrennungsanlagen verhindert hat. Flüchtlinge setzen das stark polarisierte Land zusätzlich unter großen Druck und schaffen ein Klima für rechtspopulistische Positionen. Von den neuankommenden Migranten wird vor allem verlangt, möglichst unauffällig zu sein. Illegale Afrikaner haben hier eine Nische gefunden: In den Straßen Roms sind oft kleine Haufen zusammengekehrten Abfalls zu sehen, die den ganzen Tag dort verbleiben. In ihrer Nähe ist eine kleine Box aufgestellt, in die Passanten Geld hineinwerfen können. So sind die kleinen Müllberge viel mehr als sie scheinen: Der Fegende arbeitet an einem Portrait der römischen Gesellschaft und mit jedem neuen Haufen hinterlässt er eine eigene weitere Spur.